Was unsere Reise jedoch einen „Expeditionscharakter“ verlieh, war das beradeln der sogenannten „Südlichen Seidenstrasse“ im ehemaligen Ostturkestan, ganz im Westen Chinas, der größten Provinz Xinjiang.
Genau 8886 heiße km und 72 abenteuerliche Tage liegen schon hinter uns und bloß wenige km bis nach „China“ vor uns. Nur noch ein sechs km langer „Todesstreifen“ trennt uns von der eigentliche Grenze und dem Turugart Paß. Auf genau 3752m warten wir bei eisigem Wind auf unseren Transport. Der Pass und die Strasse nach Kashgar sind militärisches Sperrgebiet. Wir müssen uns von CITS, dem staatlichen chinesischem Reisebüro abholen lassen. Jeder Bestechungsversuch, doch noch mit dem Rad einzureisen, trifft auf taube Ohren. Es nutzt nichts. Wir verzurren die Räder zusammen mit denen vier weiterer deutscher Radreisender auf dem blauen LKW und Sebastian und ich setzten uns in den weißen Santana. Noch ahnen wir nicht, dass wir besser auf unser „Recht“ und das Fax hätten bestehen sollen, mit einem Jeep, zusammen mit unseren Rädern, hinuntergebracht zu werden. Nach zwei Chequepoints und 160 km übelster Schotterpiste, erreichen wir dann endlich Kashgar – wir sind in China!
Unsere anfängliche Freude über das erreichte Zielland schwindet jedoch schnell mit der Ankunft des LKW und der Räder. Die Räder stehen in falscher Reihenfolge und alle haben leichtere bis schwerer Schäden von der schlechten Piste und der falschen Behandlung der Grenzpolizisten erhalten.Sie wurden nach 7 km entzurrt, anscheinend probegefahren (alle verschaltet!) und nachher ohne Sicherung einfach übereinander auf die Ladefläche geworfen. Nach dem letzten Checkpoint hat der Fahrer sie falsch wieder aufgestellt…
?Nach tagelanger Diskussion verweigern wir erfolgreich die 250 US Dollar Transportkosten. Auf weitere Entschädigung zu hoffen ist in diesem Land, wo keiner glauben will, was unserer Fahrräder eigentlich kosten, sinnlos.
Der Sonntagsmarkt in Kashgar gehört zu den größten des Orients. Wir mischen uns unter die 150.000 Besuchern und tauchen ein in die exotischen Gerüche und Anblicke des Morgenlandes und vergessen für einige Stunden die Querelen mit CITS. Riesige Menschenmassen aus ganz Zentralasien und China bieten ihre Waren zum Verkauf an und an allen Enden und Ecken wird gefeilscht. Von Kamelen, Nahrungsmitteln, Kleidern bis hin zu Elektrogeräten kann man hier alles erstehen und für den Hunger zwischendurch gibt es die asiatische Fast Food Variante: die sogenannten Garküchen.
Nach drei Tagen Aufenthalt in dem Schmelztiegel verschiedenster Völker und Kulturen, reparieren wir unsere beschädigten Räder und brechen Richtung Süden auf.?Hier in Kashgar teilt sich die Seidenstrasse in eine Nord- und eine Südroute. Beide Strassen umgehen das Tarim Becken mit seiner gefürchteten „Takla Makan“ Wüste, der „Wüste ohne Widerkehr“, größte zusammenhängende Sandwüste der Erde. Es ist unser Ziel, der Südroute, soweit es heutzutage möglich ist, zu folgen.?Informationen über diesen Streckenabschnitt in der autonome Provinz Xinjiang, das von China besetzt ist und von den Uiguren, einem Turkvolk bewohnt wird, gibt es kaum.
Im Vergleich zur nördlichen Variante ist dieser alte Handelsweg mehr als zur Hälfte nicht befestigt und kann im Sommer aufgrund der extrem hohen Hitze und der Sandsturmgefahr sogar tödlich sein. Sie ist der ältere der beiden Seidenstrassenrouten, auf der angeblich auch schon Marco Polo reiste. Aber die Wissenschaftler streiten sich heutzutage, ob er jemals China erreichte oder ob er bloß ein guter Geschichtenerzähler war.?Des weiteren führt die Strasse durch für Touristen gesperrte Gebiete und so wissen wir nicht, wie weit wir überhaupt unbemerkt fahren können.
Die ersten 825 km bis Niya sind noch befestigt. Die Straße ist absolut flach und führt durch steiniges, sandiges und äußerst trockenes Ödland. Einzige Abwechslung bieten die in regelmäßigen Abständen auftretenden Oasen, meist Dörfer, die aus der Ferne schon an ihren grünen Pappelalleen zu erkennen sind, in deren Schatten sich künstlich bewässerte Baumwoll- und Maisfelder erstrecken. Daneben werden Melonen und Trauben angebaut.
Fahrräder, Kamel- und Eselskarren prägen das Straßenbild in den dichtbevölkerten Oasen, dazwischen immer wieder Busse und LKWs – seltener Jeeps. Allmählich werden die Abstände zwischen den einzelnen Oasen größer und immer länger fahren wir durch die trostlose Wüstenlandschaft. Eingegrenzt von der Takla Makan im Norden und dem bis zu fast 8000m hohen schneebedecktem Kunlun Shan-Gebirge im Süden. Wo wir auch anhalten, umringen uns nicht selten bis zu 50 Uiguren. Es ist schon ulkig, wie ein ganz normales Mittagessen zu einer Attraktion werden kann.
Ab Niya wechselt die Asphaltstraße in eine sandige Wüstenpiste – wir befinden uns jetzt auf der sogenannten „Höllenstrecke“. 300 km Wüste bis zur nächsten größeren Oase, der Stadt Qarqan. Eine Strecke, die Monate im Jahr vom Sand der Wüste verweht ist – das Radfahren wird zur Qual. Schon jetzt, obwohl erst am Anfang der über 1000 km langen Piste, kreisen unsere Gedanken um so banale Dinge wie europäisches Essen, Süssigkeiten, Bier bzw. Apfelschorle. Wie gerne säße ich jetzt zusammen mit Freunden bei einem kühlen Blonden, statt mich zusammen mit Sebastian durch die fast schon unwirklich erscheinende Wüstenlandschaft mit ihren verkrüppelten Baumstümpfen zu quälen. Natürlich genießen wir die grandiosen Naturerscheinungen und rennen zwischen den abgestorbenen Baumstämmen umher, die wie Zeugen einer vergangenen, lebendigeren Gegend stumm dastehen. Aber genau solche Augenblicke machen eine Reise zum Abenteuer. Du suchst nach dem nicht Alltäglichen, nach der Einsamkeit und dem Gefühl des Verlorensein. So paradox das für einige klingen mag, aber die Momente, die man während einer Reise am stärksten verflucht, sind oft genau die Momente, die man vor der Reise gesucht hat und die einem während der Tour prägen und die Reise zu einem Erlebnis und nicht Alltäglichem werden lassen.
Die Abstände zwischen den kleinen Oasen, die oft nur aus wenigen Garküchen bestehen, liegen nun bis zu 90 km auseinander. 90 km die wir gerade mal und unter großen Anstrengungen täglich zurücklegen können.?Mit erreichen der Oasenstadt Qarqan endet auch die gefürchtete Höllenstrecke, aber nicht die Wüstenpiste. Ganz im Gegenteil. Sie wird noch schlechter! In Qarqan heißt es dann auch erst mal hamstern. 30 Kekse, zwei kg Birnen, ein kg Äpfel, acht Liter Tee und Wasser, Süßkram, so wie mehrere Brotlaibe, Dampfnudeln und ein Glas Marmelade sind unser pro Kopf Proviant für die nächsten Tage. Schwer beladen verlassen wir die Kleinstadt und begeben uns aus der sicheren Oase in die lebensfeindliche Wüste. Da sich unsere amerikanischen Fliegerkarten als äußerst ungenau herausstellen, erfragen wir bei den wenigen vorbeikommenden Lastwagenfahrern und den uigurischen Straßenarbeitern die nächsten Siedlungen, um uns nicht ganz dem Schicksal zu überlassen und das Risiko möglichst gering zu halten. Die nun völlig vom Sand verwehte Piste hebt sich kaum noch von ihrer Umgebung ab und immer wieder wird das anstrengende und langsame Fahren durch Schiebepassagen unterbrochen. Meilensteine und die Telefonmaste dienen uns in der Takla Makan als Wegweiser. Der starke Ostwind fegt uns Sand um die Ohren. Das Radfahren wird zu einer einzigen Tortur. Schon nach kurzer Zeit ist jede Pore mit Sand zu. Einziger Schutz bieten unsere Gletscherbrillen und die um Mund und Nase gewundenen Tücher.
Zum Glück handelt es sich nur um einen leichten Sandsturm und nicht um den gefürchteten „Kara Buran“, den sog. Schwarzen Sandsturm. Der „Kara Buran“ kann Tage, ja sogar Wochen und Monate andauern. Wer sich dann als einsamer Wanderer oder Radfahrer darin befindet hat nicht viel zu lachen. Es kann sein Todesurteil bedeuten!
Seit zwei Tagen fahren wir aufgrund des starken Gegenwindes und der sandgeschwängerten Luft nicht mehr bei Tageslicht sondern verkriechen uns in windgeschütztere Wasserläufe, welche die Piste unterwandern und warten auf die windstille Nacht.
Im Osten, hoch über dem Berg, steht dunkelgelb der Vollmond. Es ist schon stockfinster, als der Schein schwacher Lichter uns eine „Oase“ ankündigen, die sich dann als „Doban“, eine Art Straßenmeisterei, entpuppt, in der die uigurischen Straßenarbeiter von Anfang Mai bis Ende Oktober leben und arbeiten. Allein ihnen haben wir es zu verdanken, dass die Piste wenigstens einigermaßen befahrbar ist. Um den kleinen Tisch in der geräumigen Küche tummeln sich einige Uigurenfamilien mit ihren kleinen Kindern. Sie sind mit einem Laster unterwegs in ihr Dorf. Wir gesellen uns dazu und essen gemeinsam mit den Einheimischen ihr Nationalgericht – Nudeln mit feurig scharfer Soße. Mittlerweile ist es kurz vor Mitternacht und draußen bitter kalt. Warme Kleidung schützt uns gegen die Kälte und im fahlen Mondesschein verlassen wir das Doban.
Der Ort auf der Karte existiert mal wieder nicht und die Straße ist jetzt völlig vom Sand verschluckt. Einzig und allein die Jeepspuren, die sich irgendwie durch die Wüste ziehen, lassen eine Piste erkennen. An Radfahren ist in diesem Sand nicht zu denken. Wir müssen schieben und kommen nur äußerst langsam und schleppend voran. Einzige Abwechslung bieten uns kurze Fahretappen auf zusammen gepressten und festen Sandschollen. Nach etlichen zehrenden Kilometern erreichen wir die Oase Waxxari. Ein Uigure führt uns zu einer kleinen Garküche direkt neben der Baumwollfabrik. Die hübsche Köchin, die wie eine uigurische Variante von Claudia Cardinale aussieht, lässt uns das reichhaltige Nachtmahl noch besser schmecken und weckt in mir Bilder aus Sergio Leones Kinoklassiker „Spiel mir das Lied vom Tod“.
Je weiter wir nach Osten vorstoßen, desto größer wird der Anteil der Han-Chinesen. In der großen Oase Qarkilik, von wo aus eine Piste nach Korla zur Nordroute abzweigt, ist der chinesische Einfluss schon sehr deutlich. Aus Lautsprechern an Telefonmasten wechseln sich Walzer mit Propagandaparolen ab. Die Stadt liegt in einen einzigen sandigen Dunstschleier. Die Stimmung ist nahezu bedrohlich, geradezu apokalyptisch. In einem kleinen Laden kaufen wir etwas zu essen ein. Sebastian will unbedingt Eier. Als der Verkäufer dann auf die kleinen marmorierten Dinger zeigt und mit der Zunge schnalzt, lehnt Sebastian dankend ab. Er hat richtig entschieden. Die Eier stinken und schmecken scheußlich und ich spucke sie kurzerhand in den nächsten Straßengraben. Über den Ladenbesitzer kommen in einer privaten Herberge für wenige Yuan unter. Dummerweise bezahlen wir im Voraus. Gegen 23:30 erscheint der Ladenbesitzer mit zwei Polizisten. Der Ranghöhere spricht ein wenig Englisch und überprüft penibel unsere Reisepässe. Wir müssen die Herberge verlassen und bekommen nur die Hälfte des Geldes wieder zurück. Aber statt verhaftet zu werden folgen wir den Polizisten durch die düsteren Gassen zu einem größeren Hotel. Er arrangiert für uns für umgerechnet 10 DM eine Übernachtung in dem Hotel nach chinesischem Standard, ohne Dusche und mit den üblichen Toiletten ohne Türen, dafür jedoch mit für China unüblicher Trennwand. Nachdem uns der äußerst tuntige Nachtportier nach einigem Meckern geholfen hat alle unseren Habseligkeiten samt Gepäck auf die Zimmer zu schleppen, schlafen wir beruhigt ein. Die ganze Nacht durch bleiben Mond und Sterne hinter der undurchdringlichen Sandfront versteckt. Am nächsten Morgen ist das ganze Hotelzimmer voller Sand und erst im Laufe des Tages schaffen es vereinzelte Sonnenstrahlen den Sandschleier zu durchbrechen.
Von dem Polizisten erfahren wir zum ersten Mal, dass die Strecke, die der alten Südroute am nächsten kommt und der wir bis Dunhuang folgen wollten, nicht mehr zu befahren ist. Warum und weshalb, dass können wir nicht aus ihm herausinterpretieren und so geht es nach zwei kurzen weiteren Etappen bis nach Neumiran. Und hier endet für uns leider die Südroute. Erkundigungen bei einem besoffenen Englischlehrer und nach den Gesten der Chinesen und Uiguren zu urteilen, ergeben, dass die alte Route bis nach Dunhuang seit Jahren vom Sande verweht ist. Auf gut 500 km gibt es keine Siedlungen und Wasserstellen mehr. Obwohl die Piste noch mit drei Ortschaften in unserer Chinesischen Karte eingetragen ist, gibt es sie nicht mehr. Und die Originalroute ist schon seit Jahrhunderten nicht mehr existent.
Bis ins fünfte Jahrhundert wurde sie der Nordroute, die ursprünglich eine reine Nomadenroute war, vorgezogen. Allein des Handels wegen wurde jedoch die Südroute gegründet. Keine Nomadenstämme bedrohten hier die Karawanen, nur der Wassermangel war größer und wahrscheinlich wurde sie im Endeffekt auch aus diesem Grunde im fünften Jahrhundert zu Gunsten der Nordroute fallengelassen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als auf die einzig befahrbare Piste auszuweichen, die uns aus dem Tarimbecken und der Takla Makan heraus, in das Altun Shan Gebirge hinaufführt. Felsbrocken und ein Bergfluß versperren uns den Weg. Am Tagesende haben wir ganze 30 km geschafft und schlafen nun bei eisiger Kälte und Nachtfrost auf 3500 m unter freien Himmel erschöpft ein. Das Wasser in unseren Trinkflaschen ist über Nacht zu Eis gefroren und es braucht einige Zeit, bis unsere Extremitäten warm werden und vor lauter Kälte nicht mehr s chmerzen. Ohne die in regelmäßigen Abständen auftretenden Dobans hätten wir es wesentlich schwerer. Hier finden wir Schutz, etwas zu Essen und haben die Möglichkeit, das einfache Leben der Leute kennenzulernen.
Vorbei an fast 7000 m hohen Bergen fahren wir die letzten km durch die uigurische Provinz Xinjiang, um nahtlos in Qinghai einzureisen und nach über 1000 km Sand und Schotter taucht endlich wieder die Teerdecke auf. Das Qaidambecken entpuppt sich jetzt von seiner schönsten Seite. Was wir auf der Südroute vergeblich gesucht haben, entdecken wir hier auf einer Höhe von über 3000 m. Eine grandiose und gewaltige Wüstenlandschaft tut sich vor uns auf und verwöhnt unsere Augen mit meterhohen Sanddünen. Überwältigt von der Naturschönheit genießen wir den überdimensionalen „Sandkasten“ für Erwachsene. Quer durch die tote Qaidamsalzwüste führt die Straße über das Nanschan-Gebirge, bis nach Dunhuang, der einst letzten Garnisionsstadt Chinas.
Dunhuang stieg während der Blütezeiten der Seidenstrasse zu einer der wichtigsten Handelsstädte auf und ist der einzige Ort, der zu allen Zeiten der Seidenstraße von den Karawanen angesteuert wurde. In dieser Oase vereinen sich Nord- und Südroute. Ständiger Begleiter für die kommenden Tage werden die Reste der großen Mauer, die hier im „Hexi-Korridor“ schon sehr alt und zerfallen sind. Die Straße bis Xi`An, der alten Kaiserstadt und dem eigentlichem Ausgangspunkt der Seidenstraße, führt durch mehrere Großstädte, über das schon winterlich anmutende Qilian Shan-Gebirge und den kultivierten Terrassenfeldbau. Viel hat der alte Kaisersitz von seinem einstigen Glanz nicht mehr behalten. Auch wenn der längste Handelsweg der Welt hier zu Ende geht bzw. beginnt, führt unsere Reise noch weiter bis nach Peking.
115 Tage sitzen wir jetzt schon im Sattel und noch 1300 km liegen vor uns. Der Ehrgeiz hat uns gepackt nach genau 120 Tagen Chinas Hauptstadt zu erreichen. Die Landschaften werden immer langweiliger, die Städte immer größer und so bedauern wir unseren Entschluß nicht, möglichst viele Km zu machen. Nach den letzten 33 Stunden und genau 407 km stehen Sebastian und ich auf dem Platz des „Himmlischen Friedens“. 14400 km und unvergeßliche 120 Tage Abenteuer liegen hinter uns. Einmal von Deutschland bis nach Peking; mit dem Fahrrad auf der legendären Seidenstraße.